„Ich hatte Angst, dich vor Angst nicht lieben zu können“

Eltern-Autorin Leonie Schulte hörte als Baby auf zu atmen. Sie wurde gerettet. Doch die Angst vor dem Plötzlichen Kindstod holte sie ein, als sie selber Mutter wurde – Ich-Geschichte für ELTERN, Februar 2019

Dies ist eine Geschichte über den Plötzlichen Kindstod — und sie geht gut aus. Ich könnte sie nicht schreiben, nähme sie kein glückliches Ende.

Die Geschichte beginnt an einem sonnigen Nachmittag im Juli 1986. In drei Wochen sollte ich meinen ersten Geburtstag feiern. Meine Eltern kamen gerade mit mir und meinen großen Geschwistern vom Einkaufen zurück. Ich war eingeschlafen. Und meine Mutter hielt mich im Arm, während sie auf dem Gehweg kurz mit unserer Nachbarin sprach.

Meine Schwester stand neben uns, schaute kurz zu mir auf und sagte: „Mama, Leonie guckt so komisch.“ Zu diesem Zeitpunkt war mein Gesicht bläulich-grau, meine Augen nach oben weggedreht. Aus meinem Hals drang nur noch ein leises Klackern. Wenige Minuten später sollte der Arzt keine Atemgeräusche mehr feststellen können.

Was meinen Körper dazu brachte, das Atmen so plötzlich einzustellen, ist bis heute unklar. Meine Krankenakte von damals gibt wenig Aufschluss, das Meiste weiß ich aus den Schilderungen meiner Familie. Meine Mutter rannte in diesem Moment mit mir zum Arzt, der hatte seine Praxis nur rund 500 Meter Luftlinie auf der anderen Seite der Hauptstraße. Vergeblich versuchte er mich zu intubieren. Erst nachdem er mir etwas spritzte, kam langsam wieder Leben in meinen kleinen Körper. Ein Rettungswagen wurde gerufen – und so, als sei das alles noch nicht furchtbar genug, wurde er auf dem Weg in die Kinderklinik in einen schweren Unfall verwickelt. Ich blieb unverletzt.

Im Krankenhaus wurde ich untersucht — ohne Ergebnis. Es gab nichts, was meine Atemwege blockierte oder sonst irgendwas Ungewöhnliches. Auch ob es sich bei mir damals tatsächlich um eine Vorstufe des Plötzlichen Kindstods handelte, ist unklar geblieben. Für meine Eltern aber stand der Begriff im Raum. Er hat sich seit jenem Tag eingebrannt in das kollektive Gedächtnis meiner Familie — und tief in mein Bewusstsein.

Der Plötzliche Kindstod, im Medizinersprechauch SIDS (Sudden Infand Death Syndrom) genannt, ist seit Jahrzehnten das Schreckgespenst aller Eltern und kam früher deutlich häufiger vor: Mitte der 80er starben über 800 Kinder daran, Anfang der 90er waren es sogar fast 1300 Kinder pro Jahr. Inzwischen sind die Zahlen rapide auf etwa 140 Fälle gesunken — vermutlich auch, weil die allermeisten Eltern heute die wichtigsten Risikofaktoren aktiv vermeiden.

140 Fälle, das sind 0,02 Prozent: Vielleicht war es das Wissen um diese Zahlen, das mir bei der Geburt meiner ersten Tochter 2009 half. Oder es war meine Unbedarftheit. Jedenfalls war ich nicht wirklich beunruhigt: Der Plötzliche Kindstod gehörte zu meiner Geschichte, ja, aber für mich gab es keinen Grund zu glauben, dass sie sich fortsetzte.

Das änderte sich, als meine zweite Tochter geboren wurde: Mila war ein zartes Baby und, wie das so ist mit den Zweiten, schon früh viel häufiger krank, weil der angeschleppte Kitarotz der großen Schwester sich gleich über die ganze Familie legte. Gleichzeitig hatte sie schon mit wenigen Wochen einen Tag-Nacht-Rhythmus entwickelt und schlief locker acht Stunden am Stück durch. Während mir alle ein „Freu dich doch!“ zuriefen, wuchs in mir die Unruhe. Immer wieder bin ich zu ihr, beobachtete, ob sich der kleine Brustkorb hebte und senkte. War das schon neurotisch?

Eines Nachts lag Mila in ihrem Bett und wurde einfach nicht wach. Ihre Haut, so schien mir, war fahl. Ihr Arm kalt. Wie ein Stein fiel er auf die Matratze, als ich versuchte, sie zu wecken. Mein Mann sprang aus dem Bett, schaltete alle Lampen an, rief immer lauter ihren Namen. Dann, ganz langsam, begann sie sich zu räkeln. Sie trank kurz an meiner Brust und schlief seelenruhig weiter.

Mit meiner Ruhe jedoch war es endgültig vorbei. Mein Kinderarzt hatte Urlaub. Und seine Vertretung sagte auf meine Schilderungen nur salopp: „Atempausen sind normal. Bei manchen Kindern sind die Atempausen halt zu lang.“

So stand ich nun alleine da mit meiner Angst: 0,02 Prozent – was, wenn wir dazugehörten? Wenn doch etwas passierte? In meiner Not kaufte ich eine Überwachungsmatte. Experten halten von dieser Art des Monitorings nichts. Doch ich brauchte das Gefühl, etwas tun zu können.

In den folgenden Wochen schlug die Matratze mehrmals Alarm. Daraufhin waren wir in der Kinderklinik und im Schlaflabor. Die Befunde waren unauffällig und ich erfuhr: Atempausen sind tatsächlich normal, eine schwere Erweckbarkeit keine Seltenheit. Sicherheit gab mir das aber nicht.

Im Gegenteil: Ich merkte, wie die Sorge um meine Tochter größer wurde und ich immer mehr den Kontakt zu ihr verlor. Ich war ihr ganz nah, um ja nichts zu übersehen – und doch immer weiter weg, um den Schmerz und die Angst, ich könnte sie verlieren, nicht zu groß werden zu lassen. Dabei gab es medizinisch gesehen keinen Grund. Sie war gesund, die Matratze hatte wohl einen Fehlalarm ausgelöst. Doch so ist das mit dem Plötzlichen Kindstod: Die Angst ist diffus und kaum mit Fakten und Wissen niederzuringen.

Bei einem Spaziergang erzählte ich meiner Mutter davon. Sie war die Einzige, die wirklich verstehen konnte, wie es mir ging. Sie sagte, dass auch sie nach meinem Atemstillstand damals ungeheuer starr gewesen sei und wie ich jetzt ständig auf der Hut. Auch sie habe mich aus dem Schlaf gerissen und sei panisch geworden, wenn sich ein Infekt ankündigte.

„Doch irgendwann begann ich zu verstehen,dass ich dich verliere, wenn ich so weitermache — nicht unbedingt durch einen realen Tod, sondern weil ich dich kleines, hilfloses, unglaublich niedliches Mädchen nicht in mein Herz lasse – aus Angst, dich zu verlieren. Ja, ich hatte Angst, dich vor lauter Angst um dich nicht lieben zu können.“

Diese Sätze meiner Mutter hallten bei mir lange nach. Und ich merkte: Mir ging es genauso. Ich machte einen Termin bei meinem Kinderarzt. Bis zu diesem Zeitpunkt ahnte er gar nicht, was in mir los war. Wir hatten in der Zwischenzeit natürlich über die Befunde gesprochen, von meiner Sorge, meinem Gedankenkarussell aber hatte ich ihm nicht erzählt. An diesem Nachmittag sagte ich ihm: „Mir geht es mit meiner Tochter gar nicht mehr gut!“

Der Kinderarzt schaute mich besorgt an. Sonst hetzte er oft durch die Termine, aber in diesem Moment nahm er sich Zeit. Ich erzählte ihm von meiner Angst, von dem Gespräch mit seiner Urlaubsvertretung ein paar Wochen zuvor, von dem Satz „manchmal sind die Atempausen eben zu lang“, der mir nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte.

Und dann sagte der Arzt etwas, das profan klingt und es doch für mich nicht war: „Sie haben alles gemacht, was Sie tun konnten, Frau Schulte. Jetzt müssen wir aufs Leben vertrauen!“

Noch heute muss ich schlucken, wenn ich an diesen Moment in seiner Praxis denke. Er hatte Recht: Ich hatte alles getan, jetzt musste ich mit dem Restrisiko leben. Und mit dem Gefühl, dass es keinen 100-prozentigen Schutz gibt. Nicht jetzt und nicht, wenn die Kinder größer werden.

Und als ich meine Mutter später noch mal fragte, wie sie es geschafft hat, mich trotz meines Atemstillstandes so frei aufwachsen zu lassen, sagte sie „Ich habe irgendwann beschlossen, mutig zu sein und dich von ganzem Herzen zu lieben — egal wie viel Zeit uns bleiben würde. Durch dich und durch das, was passiert war, habe ich begriffen, dass es in der Liebe nicht darum geht, dass alles sicher, alles kontrollierbar ist. Liebe bedeutet, das Leben mit einem Menschen zu bejahen — auch wenn es schmerzt, herausfordert und manchmal verstört.“

Diese Sätze wurden zu meinem Mantra!Und sie haben mich auch getragen, als ich drei Jahre nach Mila noch eine Tochter bekam. Die ist jetzt zwei Jahre alt und schläft super durch — übrigens ohne Angelcare-Matte. Die haben wir längst verkauft.