Läuft die Kindernase, fangen Eltern an zu rotieren: Zum Kinderarzt oder doch zur Kita? Ins Bett oder ins Büro? Manchmal reicht nur ein Husten und unser wackeliges Vereinbarkeitskonstrukt mit zwei berufstätigen Eltern gerät ins Wanken: Wir können doch nicht schon wieder tagelang auf Sparflamme arbeiten …
In vielen Kindertagesstätten hängen diese Schilder, „Was tun bei Krankheit?“ steht drüber. Dann eine Tabelle: Drei-Tage-Fieber. Dauer: 3 bis 8 Tage. Darf das Kind in die Kita? Der rote Smiley sagt: nein! Bindehautentzündung, 5 bis 7 Tage. Windpocken, mindestens 14 Tage und so weiter. Eine lange Liste, die Eltern in die Bredouille bringt: Wohin mit den Kindern? Wieder einen Krankenschein? Die Oma fragen? Oder ist das vielleicht gar kein Fieber und dieser Ausschlag, ach, der ist doch eh schon lange da…
„Ich sehe einen klaren Trend, dass Kinder heute immer seltener Krankheiten auskurieren können“, sagt Dr. Hermann Josef Kahl. In seiner Düsseldorfer Kinderarztpraxis erlebe er täglich Eltern, die ihn um Antibiotika-Rezepte bitten. Die offen sagen, dass ihnen der Arbeitgeber Druck macht, nicht zu lange auszufallen. Zwar habe er Verständnis für die Nöte dieser Eltern, „aber ich sehe sie in der Verantwortung, die Kinder vor dem Druck von außen zu schützen. Viele Kinder werden zu früh wieder in Schule oder Kita geschickt und sind kränker sind als zuvor“, so Kahl.
Oft sind es Erzieherinnen wie Heike Gessner, die sich dann um die Kranken kümmern. Seit 15 Jahren arbeitet sie in verschiedenen Kindergärten in Thüringen und hat schon so einigen Erfindungsreichtum gesehen. „Ich hatte Kinder hier, da ist dann das Fieberzäpfchen beim Wickeln rausgeplumpst. Oder die kommen mit Fieber. Und die Eltern sagen, das sei vom Zahnen.“ Manche nähmen auch offiziell einen freien Kita-Tag statt das Kind krank zu melden, nur um nicht die 48 Stunden durchfallfrei abwarten zu müssen. Ein Riesenärgernis, findet Gessner, denn am Ende sei dann die ganze Gruppe samt Erzieher krank. „Haben wir das nicht alle schon mal gemacht?“, hält eine Mutter, die wir hier Nadine nennen, dagegen. Natürlich habe sie ihre Kinder schon mal krank in die Kita geschickt. Eine Ibuprofen gegen das Fieber. Das Auge ausgeputzt und weg ist die Bindehautentzündung. „Klar hatte ich ein schlechtes Gewissen meinen Kindern gegenüber. Aber was hätte ich sonst machen sollen?“, fragt sie weiter. Drei Kinder, ein Job auf Honorarbasis. Wäre sie zu Hause geblieben, hätte sie kein Geld verdient. Natürlich gehen auch viele Eltern verantwortungsvoll mit den Krankheiten ihrer Kinder um. Doch auch wenn es keine wissenschaftlichen Daten dazu gibt, sind sich die Experten einig: Nadine ist kein Einzelfall. Obwohl es in Deutschland mit dem Anspruch auf Kinderkrankengeld eine vergleichsweise großzügige Regelung gibt, und die Leistungen immer mehr in Anspruch genommen werden (siehe Seite 91), scheinen die Probleme vieler Eltern damit nicht gelöst. Etwa acht bis zehn Infekte macht ein Kind zwischen 2 und 6 Jahren in der Regel im Jahr durch. Da summieren sich die Fehltage.
Früher war das einfacher, da waren Mamas zu Hause und haben vermeintlich nebenbei Waden gewickelt. Heute sind meist beide Elternteile berufstätig — und spüren den Druck der Arbeitswelt.
„Wir sehen eine deutliche Arbeitsverdichtung“, berichtet Professorin Sonja Drobnic von der Uni Bremen. „Bei der Art, wie wir heute arbeiten, ist Abwesenheit ein Problem. Es gibt Deadlines, Projekte, die nicht delegiert werden können. Werden die Kinder krank, stapelt sich die Arbeit.“ Wie Eltern im Krankheitsfall agieren können, hänge daher sehr von der Organisations-Kultur eines Unternehmens ab. Viele berufstätige Eltern sorgen sich um ihre Fehlzeiten. Völlig zu unrecht, wie die Techniker
Krankenkasse 2016 herausfand. Denn berufstätige Eltern über 40 Jahren fehlen sogar seltener als Mitarbeiter ohne Kinder. Mütter und Väter unter 40 sind im Schnitt nur zwei bis drei Tage häufiger krank als ihre kinderlosen Kollegen. Auch weil Eltern sich im Krankheitsfall der Kinder anderweitig behelfen — und manchmal eben tricksen mit Fieberzäpfchen und Co..
„Es ist ein gesamtgesellschaftliches Thema“, findet Professor Wieland Kiess, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Leipzig. Kinder in Deutschland seien heute so gesund wie nie und trotzdem werde Kranksein zunehmend zum Problem.
„Wir wollen alles optimieren und auch das Kind soll performen. Das muss gut in der Schule sein, da darf es nichts verpassen. Und es muss in die Familienplanung eingetaktet werden, schließlich wollen wir ja auch im Job die beste Leistung bringen. Störungen sind nicht erlaubt“, so Kiess.
Um das zu ändern, sieht er nicht nur Eltern in der Verantwortung. Die gesamte Gesellschaft müsse wieder akzeptieren, dass Kinder auch mal Husten und Schnupfen haben, dass Krankheit Teil des Lebens ist.
Dazu gehört dann auch, dass bei Fieber Wadenwickel helfen und eine Erkältung eben sieben Tage dauern kann. Und dass sich Mütter UND Väter um ihre kranken Kinder kümmern. Vielleicht würde es ja helfen, wenn diese Schilder mit den vielen roten Smileys nicht nur in den Kindertagesstätten hingen. In den Fluren deutscher Unternehmen zum Beispiel wäre sicher Platz.