Wie sich Pandemie und Lockdown zunehmend auf Kinder und Jugendliche auswirken

  • Für Kinder und Jugendliche bestimmt die Corona-Pandemie gerade den Großteil ihres Lebens.
  • Von einer verlorenen Generation wollen Experten aber noch nicht sprechen.
  • Um eine bestimmte Gruppe aber machen sie sich inzwischen große Sorgen.

Das Gesicht seiner Mutter, ihren Geruch, ihre Stimme – das ist Moritz’ ganze Welt. Was außerhalb geschieht, die mitunter voll belegten Intensivstationen, die Menschen mit Masken, die geschlossenen Kitas und Schulen, davon bekommt er nichts mit. „Natürlich ist es anders“, sagt Christiane und wiegt ihren neugeborenen Sohn im Arm. Im Kinderzimmer spielt die große Schwester. Bei der Geburt ihrer Tochter war vieles leichter. Jetzt bleibt Christiane meist allein mit den Kindern, nur die engste Familie kommt ab und zu mal vorbei. Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett: Die Pandemie, die Gedanken um die Gesundheit, sie sind auch in diesen intimen Familienphasen ständige Begleiter. „Man macht sich schon Sorgen, klar“, sagt Christiane.

Die ersten Jahre sind für viele Entwicklungsschritte eines Menschen entscheidend. Die frühe Bindung zur Bezugsperson etwa, in den meisten Fällen sind das Mütter und Väter, prägt uns ein Leben lang. Darum ist die Frage so wichtig: Ändert Corona etwas an dem Bindungsverhalten junger Eltern?

Dem Terminstress entgehen dank Corona?

In der Wissenschaft gibt es hierzu bislang kaum Erkenntnisse. Allerdings gibt es Hinweise: Studien aus Kanada, Italien oder auch der Türkei verzeichnen einen Anstieg von Depression und Angst bei Schwangeren oder auch von postpartaler Depression. Wird die Krankheit nicht erkannt und bleibt unbehandelt, kann dies potenziell zu schweren Langzeitfolgen für die ganze Familie führen, etwa durch eine Chronifizierung der Depression bei der Mutter oder einer Bindungsstörung und Beeinträchtigungen in der emotionalen und kognitiven Entwicklung des Kindes.

In Deutschland aber gibt es bislang keine Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Corona und postpartalen Depressionen. Christian Albring, Präsident des Berufsverbandes der Frauenärzte und niedergelassener Frauenarzt in Hannover, sieht im Lockdown sogar die Möglichkeit, dem sonst üblichen Terminstress aus dem Weg zu gehen und sich besser zu erholen und eine gute Bindung zu dem Baby aufzubauen. „Das heißt nicht, dass postpartale Depressionen jetzt gar nicht mehr auftreten würden“, sagt Albring. „Aber in der Praxis ist das Phänomen nicht häufiger zu beobachten als vor der Pandemie.“

Pandemie kann vorhandene Probleme verstärken

Und längst nicht jede Belastung rund um die Geburt muss nachhaltige Auswirkungen haben. Es sind Sorgen, die Moritz vielleicht bei seiner Mama hin und wieder spürt, beeinträchtigen aber werden sie ihn nicht. Grundsätzlich werden die meisten kleinen Kinder gut durch diese Zeit kommen, glaubt Fabienne Becker-Stoll, Professorin für Entwicklungspsychologie und Leiterin des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München. „Viele Eltern sind gerade nervlich am Ende. Völlig zu Recht. Sie brauchen Unterstützung und Entlastung“, sagt Becker-Stoll. „Aber davon auszugehen, dass Corona zu irreparablen Schäden in den Bindungsbeziehungen führt, so weit würde ich nicht gehen.“ Auch wenn die gute Bindung ungemein wichtig ist, die Trennungsforschung zeige, wie veränderbar die Bindung selbst nach schweren Erschütterungen noch sei. Und auch nach Depressionen der Mutter kann sich die Bindung noch wunderbar entwickeln. Optimistisch schaut sie daher auf die eine Seite, sorgenvoll aber auf die andere.

Denn bei Familien, die eh schon belastet sind oder nun existenziell bedroht, wirkt die Corona-Pandemie wie ein Verstärker bereits vorhandener Probleme. Und diese Gruppe ist größer als gedacht: Schon allein die Angst vor einem Jobverlust etwa beeinträchtigt die Feinfühligkeit von Müttern gegenüber ihren Babys und damit die Basis für eine sichere Bindung, wie eine jüngst veröffentlichte Studie aus den USA zeigen konnte. Kommen weitere Faktoren hinzu und die Eltern nehmen aufgrund mangelnder Feinfühligkeit die Bedürfnisse der Kinder nachhaltig nicht wahr, könnte es zu Bindungsstörungen kommen – die wiederum oft mit Beziehungsproblemen und Verhaltensauffälligkeiten bis ins Erwachsenenalter hineinwirken.

Mediziner berichten von mehr Gewalt an Kindern

Neben wirtschaftlicher Unsicherheit und Armut gibt es für Experten aus der Psychologie, Medizin oder auch Bildungsforschung etliche weitere Risikofaktoren für Kinder, die das Aufwachsen negativ beeinflussen, darunter Beziehungsprobleme der Eltern, Migrationshintergrund, beengte Wohnverhältnisse oder auch die psychische Belastung oder schwere Krankheit der Eltern. Eine Risikogruppe, die also gar nicht so leicht zu beziffern ist. Doch klein ist sie nicht: Allein als armutsgefährdet gelten in Deutschland mehr als 20 Prozent – und damit rund 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche.

Die älteren Kinder und vor allem die Jugendlichen sind es auch, die Entwicklungspsychologin Becker-Stoll und vielen anderen Experten und Eltern inzwischen große Sorgen bereiten. Fernsehmoderatorin Marlene Lufen zitiert in einem am Wochenende viral gegangenen Posting auf Instagram unter anderem die Zahlen aus der Gewaltambulanz der Charité: Demnach zählten die Mediziner 23 Prozent mehr Fälle von Gewalt an Kindern im ersten Halbjahr 2020. Zahlen aus dem zweiten Lockdown liegen noch nicht vor.

Auch der Bedarf an Onlineberatungen für Jugendliche ist im Corona-Jahr um fast ein Drittel gestiegen, sagt Anna Zacharias von der Nummer gegen Kummer, dem Sorgentelefon für Kinder und Eltern. Besonders Themen wie psychische Probleme, Einsamkeit und Gewalterfahrungen hätten deutlich zugenommen. Der Leidensdruck unter Jugendlichen, er ist enorm – und nicht nur bei jenen aus der Risikogruppe.

Immer mehr psychische Auffälligkeiten und Probleme

Kein Wunder, treffen sie die Kontaktbeschränkungen zu einer Zeit in ihrem Leben, in der die Interaktion mit außen durch Freunde, Gleichaltrige, für ihre Entwicklung eine so immense Rolle spielt. Mädchen wie Sina haben zurzeit nur noch wenige Gründe, das eigene Bett zu verlassen. Für die 17-Jährige ist das Handy das Tor zur Außenwelt. Auf dem Laptop schaut sie eine Serie nach der nächsten an. Am Tag macht sie im Bett ihre Schulaufgaben, am Abend findet sie kaum in den Schlaf. Sina kommt, wie man so sagt, aus gutem Hause. Ihre Eltern kümmern sich. Ihre Geschwister nerven in normalem Umfang. Sie hat auch einen Freund. Allein ist sie nicht. Einsam fühlt sie sich trotzdem. Manchmal setzt sie unvermittelt ein, diese Traurigkeit. Dann laufen ihr die Tränen übers Gesicht, und sie weiß nicht, warum. Jugendliche und junge Erwachsene fühlen sich einsam, trotz funktionierender Beziehungen, das zeigt auch die Juco-Studie von Sabine Andresen und ihrem Team von der Universität Hildesheim.

Und inzwischen schlagen auch immer mehr Kinder- und Jugendärzte und -psychiater Alarm. Dass gerade diese Altersgruppe unter der Pandemie leidet, ist schon länger bekannt. Bereits nach dem ersten Lockdown konnten Hamburger Wissenschaftler zeigen, dass die Pandemie das psychische Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen verringert und das Risiko für Auffälligkeiten wie Hyperaktivität, emotionale Probleme und Verhaltensprobleme steigen lässt. Und auch hier gibt es vermutlich den Verstärkereffekt: Wer es vor der Krise schwer hatte und psychische Auffälligkeiten zeigte, hat es jetzt umso schwerer. Und das betrifft immerhin jedes fünfte Kind. Die Folgen aber könnten noch dramatischer sein. Meldungen aus den USA, Italien oder Österreich schüren große Ängste. Werden Kinder gar suizidal unter der Corona-Pandemie? Laut Bayerischem Rundfunk verzeichnet das Sozialreferat München auch vermehrt Berichte junger Menschen aus schwierigen Familienverhältnissen, die Selbstmordabsichten äußerten.

Dennoch gibt es aus Deutschland dazu bislang keine belastbaren Daten. Ein allgemeiner Anstieg der Suizidrate ist im Jahr 2020 bislang nicht zu erkennen. „Ich habe auch nicht das Gefühl, dass die Suizidalität gestiegen ist“, sagt Johannes Hebebrand, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie am LVR-Klinikum in Essen. Grund zur Sorge sieht er dennoch, gerade bei den Jugendlichen. Den Behandlungsbedarf könnten sie gerade kaum decken, die Wartelisten seiner Klinik würden immer länger. „Wir sehen einen explosionsartigen Anstieg zum Beispiel bei Essstörungen“, so Hebebrand. „Und zwar sowohl bei Rückfällen aber auch bei neu auftretenden.“ Ein Grund dafür sei unter anderem die fehlende Möglichkeit, zur Schule zu gehen. „Die Jugendlichen sind ja die ganze Zeit ohne Kontakte zu Gleichaltrigen. Wir glauben, dass das diese Entwicklung verstärkt.“ Eine Entwicklung, deren Folgen auch das Ende der Lockdownmaßnahmen überdauern wird. Rund dreieinhalb Jahre dauert die erste Phase einer Essstörung im Durchschnitt, rechnet Hebebrand vor. Darauf folgen weitere dreieinhalb Jahre andere Essstörungen. Sieben Jahre also, die die Jugendlichen damit zu kämpfen haben.

Kinder könnten den Anschluss verpassen

„Die Folgen für Kinder und Jugendliche sind inzwischen dramatisch“, sagt auch Wieland Kiess, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Leipzig, „und zwar psychisch und physisch.“ Der Wegfall von Kita und Schule, von Freizeitmöglichkeiten, er beeinträchtigt das psychische Wohlergehen. Depressionen etwa nähmen zu, auch andere Verhaltensauffälligkeiten. Doch auch physisch wird die Corona-Pandemie sichtbar. Aktuell werten Wissenschaftler die Daten von 150.000 Kindern aus. „Was wir in Bezug auf Adipositas sehen, das ist gruselig! Wir hatten Adipositas bei Kindern in den letzten Jahren eigentlich ganz gut in den Griff gekriegt. Jetzt aber werden die, die ohnehin schon übergewichtig waren, immer dicker.“ Überschüssige Pfunde wachsen in der Corona-Krise möglicherweise zu einem echten Problem heran. Die Auswirkungen: Bluthochdruck oder ein krankhaft erhöhter Blutzuckerspiegel, im Zweifel ein Leben lang.

Auch das Thema Bildung wird für einige Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zunehmend zur Belastung: Leistungsdruck, die Angst, abgehängt zu werden, umtreiben immer mehr Jugendliche. Gerade wurden die Halbjahreszeugnisse verteilt, doch wie es für sie weitergeht, wissen viele Schülerinnen und Schüler nicht. Mehr als zwei Drittel der Befragten aus der zweiten Juco-Studie gaben an, Angst vor der Zukunft zu haben. Die Phase der Übergänge, etwa von der Schule ins Berufsleben oder ins Studium, sei besonders kritisch, betont die Münchner Professorin Becker-Stoll. Wer jetzt durch Corona den Anschluss verpasse, könnte es im Erwachsenenleben schwer haben, ihn wiederzufinden. „Der Bildungsverlust einiger Kinder und die Schere, die immer weiter auseinandergeht, das wird uns mindestens noch 20 Jahre beschäftigen“, glaubt Kinderarzt Kiess. Tatsächlich warnen zahlreiche Experten vor enormen Folgeschäden, sollten Schulen und Kitas weiterhin geschlossen bleiben – für die Kinder selbst, aber auch für die Gesellschaft. Auf bis zu 3,3 Billionen Euro beziffert das Ifo-Institut mögliche Folgekosten.

Jugendliche brauchen Signal der Anerkennung

Kinderarzt Thomas Buck fehlt beim Thema Schule momentan eine „längerfristige Strategie, die das Wohl der Kinder im Auge hat“, sagt er gegenüber der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ (HAZ). Derzeit liefen wir Gefahr, etwa 20 Prozent der Kinder von ihrer weiteren Entwicklung in sprachlicher und in gesundheitlicher Hinsicht abzuhängen. Gerade in den Arztpraxen seien die Folgen des Lockdowns zu sehen. „Bewegungsmangel, Sprachentwicklungsstörungen, psychische Probleme, Depression und Traurigkeit. Die Jugendlichen verlieren ihre Kontakte in der Schule und damit ihre Jugend“, beobachtet auch der Kinderarzt zunehmend.

Ein Beispiel dafür sei etwa ein dreijähriger Junge, der mithilfe seiner Eltern aktuell nur noch über Skype mit seinem Freund spricht. Am Ende des Gespräches habe der Junge laut seinen Eltern weinend den Bildschirm geküsst. Kinderarzt Thomas Buck sieht gerade in solchen Situationen ein „krasses Zeichen für die Not“.

Laut Buck belegen auch die Schuleingangsuntersuchungen, dass die Leistungsstörungen erheblich zugenommen haben. Der Kinderarzt sagt gegenüber der „HAZ“, dass man den kleinen Kindern ebenfalls anmerke, dass sie in der Kita nicht mehr mit Nahrung versorgt werden.

Und so sind sich zahlreiche Ökonomen, Mediziner und Psychologen erstaunlich einig: Die Schulen und Kitas müssen so schnell wie möglich unter entsprechendem Gesundheitsschutz wieder öffnen. Klar ist aber auch: Nicht alle Probleme werden damit in zwei, drei, sechs Wochen oder wann immer wir mit Schulöffnungen rechnen können, verschwunden sein. Von einer verlorenen „Corona-Jugend“ will Andresen dennoch nichts wissen. Noch nicht. Sie und ihr Team glauben an den jugendpolitischen Handlungsspielraum. Viele Jugendliche und junge Erwachsene unterstützen die Corona-Maßnahmen, nur fühlten sie sich weder gesehen noch gehört. „Wichtig wäre für sie jetzt ein deutliches Signal der Anerkennung für das, was sie gerade leisten“, sagt Andresen.

Auch Experten wie Entwicklungspsychologin Becker-Stoll appellieren an die Politik, jetzt Maßnahmen zu ergreifen, um die Folgen für Kinder, Jugendliche und die Familien abzufedern. „Kommunen sollten zum Beispiel verpflichtet werden, die kompletten Sommerferien über pädagogisch anspruchsvolle Ferienprogramme zu bieten“, sagt Becker-Stoll. Um die Bildungsverluste auszugleichen, aber auch um die Eltern in diesem Corona-Jahr zu entlasten.

(erschienen bei dem Redaktionsnetzwerk Deutschland am 02.02.2021)